Archive:Wikimedia Quarto/1/De-5


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Schlusslicht

Ward Cunningham
Ward Cunningham
Interview: Ward Cunningham

Der Quarto hat Ward vor dem Frühstück an einem frühen Morgen in Oregon getroffen, als er dabei war, sich von der Konferenz über Pattern Languages of Programs (PloP), die in Illinois abgehalten wurde, zu erholen. Zwischen zwei Büchsen Moxie haben wir ihn mit Fragen gelöchert über die Entwicklung von Wiki, das Urheberrecht und die Wikipedia Gemeinschaft. Später schaute er im IRC unter #wikipedia vorbei, wo ihm verdienterweise Huldigungen entgegengebracht wurden.


Der Wiki-Weg

Wikis machen das Bearbeiten für jedermann einfach. Welche Barrieren behindern das Editieren noch? Wie wünschen Sie sich die weitere Entwicklung der Wikis?

WC: Wenn wir darüber sprechen, was es den Autoren in einem Wiki noch schwer macht, so ist es das Fehlen eines WYSIWYG-Editors. Manche haben angenommen, dass Wikis gerade deshalb funktionieren, weil diese Hürde beim Editieren überwunden werden muss. Aber wenn man überlegt, dass all die vielen Seiten in eine einfache Textbox eingetippt wurden, muss man das als grausam bezeichnen. Nebenbei gesagt, wäre ich natürlich nicht zufrieden, wenn [der Editor] nicht für jedermann funktionieren würde.

In "The Wiki Way" haben Sie die Wichtigkeit der absoluten Flexibilität beim Bearbeiten und Weiterverwerten der Inhalte hervorgehoben. Ist da auch genug Platz zum Konservieren von alten Inhalten und gleichzeitigen Hervorbringen von besseren Ergebnissen?

WC: In meinem eigenen Wiki habe ich diese Vorstellung ins Extreme getrieben. Ich habe so viel wie nur irgendwie möglich editierbar gemacht und keinen einzigen Datensatz archiviert -- so dass der Befehl 'Löschen' wirklich auch das tat. Daher machte man sich bewusst, was man tat. Ich bin hocherfreut, dass die Leute diese Herausforderung angenommen haben und herausfanden, was sie dadurch für Möglichkeiten haben. Nachdem sie einmal so weit waren, konnten sie sagen: 'Hier sind die Vor- und die Nachteile dieses Extrems'. Ich glaube, das Spielen mit diesen Extremen von Wikis ist eine sehr gute Sache. Aber jede neue Regel macht es auch für neue, freiwillige Mitarbeiter schwieriger.
    Ich schätze die Wikipedia dafür, dass sie mir das Schreiben so einfach macht, aber trotzdem sehr gute Seiten fertig bringt. Ich glaube, Wikipedia ist ein leuchtendes Beispiel dafür, was in einem großen Projekt mit hoher Qualität möglich ist, wobei sie trotzdem den ursprünglichen Charakter eines Wiki erhält -- wenn ich einen Fehler entdecke, kann ich ihn sofort korrigieren. Ich muss mich nirgends anmelden, eine Spezialausbildung machen oder irgend etwas...

"Ich glaube nicht, dass die Wikipedia ohne ihre [Diskussionsseiten] denkbar ist. Die Frage ist nun, war mein Wiki überhaupt eines ohne diese?"

Was denken Sie über die Verwendung von getrennten Inhalts- und Diskussionsseiten?

WC: Ich liebe sie. Sie sind brillant. Ich glaube, Wikipedia ist vor allem interessant für Leute, die sich nicht als Autoren sehen und die daher nicht an der ganzen Meta-Konversation interessiert sind. Die Wikipedia wäre ohne sie wohl nicht möglich.
    Die Frage ist: Sind meine Sites ohne Diskussionsseiten überhaupt ein Wiki?

Was denken Sie über die Vereinigung vieler Sprachen in einem einzigen Wiki?

WC: Oh, ich glaube das ist eine wunderbare Idee. Die Möglichkeit, eine Seite zu lesen und darin ein subtiles Problem festzustellen... die Möglichkeit, solcher Finesse gleich nachzuspüren, ist einer der großen Vorteile eines Wiki. Wenn Sie nun Mitautoren haben, die mit einem Fuß in der einen und mit dem anderen Fuß in einer anderen sprachlichen Kultur verankert sind, dann können Sie solche Feinheiten über die Kulturgrenzen hinaus kommunizieren, die Welt als ein ganzes betrachten.
    Mein Traum davon, 'was ein Wiki sein könnte', ist etwas, wo durch die Bemühungen von Personen, die mehrere Sprachen lesen und verstehen können, ein gemeinsames Ganzes entsteht, das eine Gesellschaft von Menschen zusammenhält, obwohl sie nicht die selbe Sprache sprechen. Ich denke, das passiert langsam auf der ganzen Welt mit den traditionellen Medien - eine Gruppe von Übersetzern, die versuchen, alle Kulturen für alle verständlich zu machen.
    Aber das muss in einer Form geschehen, dass Sprachen, die für jemanden wie Kauderwelsch aussehen, unsichtbar bleiben, und nur jene sichtbar sind, die er kennt. Ich stelle mir vor, dass Wiki-Seiten in verschiedenen Sprachen gleichzeitig verfügbar sind. Man wird sich daran gewöhnen, in verschiedenen Sprachen zu lesen, und wenn es Differenzen gibt, so wird man sagen: "Da ist ein Fehler drinnen, der korrigiert werden muss". Dadurch entsteht ein großartiger, globaler Prozess.

Nun... ist die Wikipedia ein Wiki?

WC: Ja, absolut. Ich versuche immer, die Menschen zu erinnern, dass mein Wiki nicht die Wikipedia ist und dass es dort eine Reihe von Weiterentwicklungen gibt. Ich bewundere, was die Wikipedie-Community geleistet hat, das ist wirklich großartig.
    Das ist es, was meiner Meinung nach ein Wiki ausmacht: Inhalt vor Gemeinschaft. Kurze Wartezeiten auf Korrekturen. Einfache Erstellung von neuen Seiten, die veröffentlicht und sofort weiterbearbeitet werden, bis sie richtig angewachsen sind. Und eine Gemeinschaft, die über die "Recent Changes" jederzeit sieht, was von wem gerade bearbeitet wird. Das ermutigt neue Besucher, vom Leser zum Autor und Bearbeiter zu wechseln.
    Als ich begann, mich mit Wikis zu beschäftigen, habe ich ein Buch von Edwin Schlossberg, einem Ausstellungsdesigner, gelesen. Er beschreibt dort, wie das Publikum die 'Qualität' einer Ausstellung oder Performance beurteilt: Etwas ist "gut", wenn die Menschen, die sich dafür interessieren, dem Gesehenen zustimmen. Weiter schreibt er, sobald man ein Medium gefunden hat, in dem jeder jeden Anderen beobachten kann, erhält man zwangsläufig ein gutes Gemeinschaftsprodukt. Und genau das passiert hier.

Über Microsoft

Viele Leute wollen wissen, wie das jetzt für Sie ist, für Microsoft zu arbeiten.

WC: Wie ich schon in meinem Wiki geposted habe: "Ich habe mich zwar an Microsoft angeschlossen, aber ich bin noch immer der selbe Ward". Und ich glaube, auch Microsoft ist noch immer das selbe Microsoft.

Manche wünschen sich, dass Sie Einfluss auf Microsoft ausüben würden.

WC: Ich hoffe, sie haben auch einen Plan, wie ich diesen Einfluss ausüben soll.  

 

Wenn Sie nicht gerade ein Wiki für eine Zusammenarbeit einsetzen, was verwenden sie dann?

WC: Ich verwende momentan ungefähr ein Dutzend Wikis. Das Einzige, was ich sonst noch jeden Tage einsetze, sind E-Mails... diese erfordern unmittelbare Aufmerksamkeit. Wenn ich etwas Unmittelbares, Kurzlebiges mitteilen will, sende ich dem Betreffenden eine E-Mail. Wenn ich etwas Zeitloses zu sagen habe, stelle ich es in ein Wiki und schicke ihm nur einen Link dorthin.
    Bekanntlich erlebt das E-Mail-Konzept derzeit seinen Niedergang. Wer hätte sich gedacht, dass das System der E-Mails mit all seinen Zugriffsbarrieren und Sicherheitsmerkmalen schneller unbrauchbar wird als das Wiki-Konzept? Unsere Posteingänge sind weit mehr verletzbar als unsere Wikis, wo jeder schreiben kann, was er will.
    Das Abarbeiten meiner Mails ist Tag für Tag eine Last, während das Blättern durch die Wikipedia ein Vergnügen ist. Ich hebe mir das immer auf, wenn ich mich selbst belohnen will, und treibe mich dann in der Wikipedia herum. Wikipedia ist meine bevorzugte Content-Site.

(Das verstehen wir, denn uns geht es genauso.)

WC: Was mich sehr interessiert hat und über dessen Entwicklung ich mich freue, ist , dass in der Wikipedia alles unter einer Freien Lizenz veröffentlicht wird. Wer weiß, was in hundert Jahren die 'richtige' Online-Enzyklopädie sein wird; möglicherweise gibt es dann fünfzig verschiedene zum auswählen. Dafür den ersten Anstoß gegeben zu haben, ist großartig. Aber derzeit sind wir hier alle noch Anfänger; versuchen Sie sich vorzustellen, wie das alles in ein paar Generationen aussehen könnte, wenn diese ihre ganzen Erfahrungen mit der globalen Zusammenarbeit einbringen.  

Über Wikipedia

Haben Sie in letzter Zeit in der Wikipedia gearbeitet? Was denken Sie über die Wikipedia?

WC: Ich blättere in der Wikipedia immer wieder, wenn ich etwas suche, was ich wissen muss; ungefähr einmal die Woche. Aber ich habe nicht viel bearbeitet. Wenn mich jemand fragen würde, welche moderne Enzyklopädie ich empfehle, würde ich die Wikipedia nennen. Wikipedia definiert momentan Enzyklopädie...
    Und Wikipedia ist dabei, eine eigene Literaturquelle zu werden.

Momentan sind wir eigentlich dagegen; eine der Regeln lautet: "Wikipedia dient nicht der Theoriefindung".

WC: Dient das zum Verhindern von endlosen Diskussionen? Ich wünsche mir immer, dass die Menschen über das sprechen, was ihnen gerade passiert; ihre eigenen Erfahrungen sollen das Fundament liefern. Eine Gemeinschaft muss immer ein solides Fundament haben, sonst endet sie in gegenseitiger Täuschung.

Habe Sie in den Anfängen der Wikis jemals gedacht, dass man diese zum Schreiben einer Enzyklopädie verwenden kann?

WC: Ich dachte daran, dass man es als Glossar für Begriffsdefinitionen innerhalb einer Gemeinschaft verwenden könnte. Der Gedanke an ein Wörterbuch hat die Ideen für das erste Wiki beeinflusst. Aber die Reichweite der Wikipedia ist um ein Vielfaches größer als die meines Wikis. Dadurch wird jetzt langsam klar, dass es da viele unterschiedliche Standpunkte gibt. Ich habe immer davon abgeraten, zu kontroverse Ansichten in die Wikipedia zu stellen, denn wenn der Konsens nicht gesucht wird, wird er auch nicht gefunden.
    Wenn ich jetzt die Qualität von Wikis hervorheben soll, stelle ich vor allem die Möglichkeit in den Mittelpunkt, Normen zu definieren, die ein Computerprogramm nicht umsetzen kann. Man kann den NPOV (Neutral Point of View) nicht in einen Algorithmus fassen und dann automatisch alle Texte testen. Der einzige Weg, [derartige] soziale Entscheidungen zu treffen ist derjenige, dass die Beteiligten über die gegebenen Beispiele diskutieren.

"Wer hätte sich gedacht, dass das System der E-Mails mit all seinen Einschränkungen und Sicherheitsmerkmalen schneller unbrauchbar wird, als das Wiki-Konzept?"

Habe Sie erwartet, dass Wikis so stark wachsen, wie das heute der Fall ist?

WC: Ich habe erwartet, dass es Fehlschläge geben wird, und ich war nicht überrascht, dass die Gemeinschaft Lösungen dafür gefunden hat. Ich glaube es war wichtig, dass Einrichtungen, die sich als falsch herausstellten, von der Gemeinschaft umstrukturiert wurden und sich in eine andere Richtung weiterentwickelten.

Warum gibt es keine anderen wirklich großen Wiki-Projekte, wie zum Beispiel Buchrezensionen oder ein Zeitungs-Projekt?

WC: Möglicherweise kann so etwas nur alle paar Jahre einmal entstehen, weil es eine gewisse Zeit dauert, bis es genug Personen gibt, die die sozialen Prozesse verstehen und schätzen können. Und dann muss sich noch jemand finden, der die Energie aufbringt, jene Gemeinschaft zu formieren, die das Projekt tragen soll. Und vielleicht gibt es auch manche, die das alles machen, aber mit dem Hintergedanken, wenigstens einen kleinen Profit daraus zu schlagen.
    Wahrscheinlich gibt es schon für jedes denkbare Thema ein Wiki. Und warum sollten dann Leute, die ein erstes Gefühl für die Möglichkeiten bekommen wollen, ein neues Projekt starten, wenn sie doch an einem bereits funktionierenden teilnehmen können?

Gibt es deshalb so viele Projekte, die sich an die Wikipedia-Idee anhängen wollen?

WC: Diese Tatsache bietet möglicherweise interessantere Ziele als das Bestreben, die Enzyklopädie zu vervollständigen: Die Strukturen und Prozesse der Wikipedia auf andere Gemeinschaften zu übertragen.

Danke für das Gespräch. Vielleicht noch ein abschließender Gedanke?

WC: Ich hoffe, Sie schreiben nicht nur über die Anzahl der Artikel in der Wikipedia, sondern vor allem darüber, wie deren Ideen die Welt beeinflussen kann. Und ich hoffe, dass der Newsletter hilft, diese Ideen zu verbreiten und andere kulturelle, idealistische Bemühungen zu stärken

--[WQ]

 

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